Arthur Gordon Wolf
MUIREALL
Der alte Mann stand am Erkerfenster des Westturms und blickte versonnen über die
Wiesen und Seen von Faydew Hall. Die morgendliche Sonne stand noch recht
tief und so woben ihre Strahlen einen diffusen Fächer aus Licht und Schatten über
die Landschaft. Eine dünne Schneedecke hatte sich während der Nacht sanft
über den weitläufigen Park gelegt; es schien, als ob ein wahnwitziger Gartenarchitekt
jede Gerade, jeden Winkel und jede Kante akribisch in Bögen, Wellen und Rundungen
umgewandelt hätte. Nur bei den Seen wurde das strahlende Weiß der Natur
durch ein mattes Graublau durchbrochen. Das Wasser war noch nicht gefroren und wehrte
sich standhaft gegen die Herrschaft des Winters. Ein verträumtes Lächeln
umspielte die Lippen des alten Mannes. Die Seen träumen noch vom Sommer,
hatte ihm sein Onkel vor vielen Jahren einmal erzählt. Und in ihren Träumen
sehnen sie sich zurück an sonnige Gestade, zurück zu ihrer großen Mutter,
dem Meer. Er mochte damals 17 oder 18 Jahre alt gewesen sein, ein Alter, in dem
man grundsätzlich alles, was einem die Älteren sagen, in Frage stellt. Das
Bild einer Südsee-Lagune inmitten der Hügel von Cumbria befand sich da weit
jenseits der Grenze, die ein junger, rebellierender Geist zu überschreiten gewillt
war.
Und doch war ihm schon damals jener verrückte Gedanke gar nicht so verrückt
erschienen. Mit seinen geschwungenen japanischen Holzbrücken, unter denen sich
ein träger Bach zwischen den einzelnen Teichen und Seen schlängelte und den
Ziersträuchern, Ginkgos, Schwarzpappeln und Moorbirken zu seinen Ufern wirkte
der Park ohnehin wie eine fremdartige Oase, wie ein Fenster in eine ferne Welt.
Der Blick des alten Mannes kehrte zurück zu den Wiesen, die sich vom Fuß
des Turms bis hinunter zum Park erstreckten. Duftige Nebelschlieren tanzten wie seidige
Tücher über dem Schnee. An manchen Stellen verliehen die Sonnenstrahlen dem
Dunst ein kostbares Glitzern.
Feen- Tau hatte sein Onkel den Nebel genannt. Faydew. Damals
hatte er noch nicht ahnen können, wie überaus passend dieser Name war. Trauer
und Verwirrung hatten in dieser Zeit sein ganzes Wesen ausgefüllt. Er war noch
nicht empfänglich für die Wunder von Faydew Hall gewesen.
Der alte Mann seufzte schwer. Eine halbe Ewigkeit war seitdem vergangen. Es waren nun
genau 69 Jahren ins Land gezogen, seitdem seine Eltern bei einem Fährunglück
ums Leben gekommen waren und er zu seinem einzigen noch lebenden Verwandten nach Faydew
Hall geschickt wurde, zu Lord Calum MacBarclay.
Von einigen wenigen flüchtigen Momenten
bei Familien- Festen abgesehen hatte er seinen Onkel nie zuvor zu Gesicht bekommen.
Lord MacBarclay war für ihn stets eines jener Schemen, jener Schatten, jener Namen
ohne körperliche Hülle geblieben, von denen es in nahezu jeder Familie einen
Vertreter zu geben scheint. Er wusste nur, dass der Bruder seiner Mutter sein Geld
mit Antiquitätenhandel und Börsenspekulationen verdiente. Schon früh
war sein Onkel verwitwet, woraufhin er sich noch mehr als sonst auf seinen Besitz in
den Hügeln von Cumbria zurückgezogen hatte.
Als der Waise zum ersten Mal die Schwelle von Faydew Hall überschritt,
glaubte er sich in ein Museum oder ein prunkvolles Schloss versetzt. Überall standen
Marmor- Statuen, deren Abbilder sich in den glänzenden Mosaiken des Bodens spiegelten.
Monumentale Gemälde, die meist wilde Landschaften oder noch wildere Schlachten
zeigten, bedeckten die hohen Wände. Barocke Spiegel und schwere Gobelins mit mythologischen
Themen reihten sich auflockernd dazwischen. Die kostbare Pracht, so lernte der junge
Mann schnell, war jedoch nicht für fremde Augen bestimmt. Das gesamte Anwesen
beherbergte außer seinem Onkel lediglich zwei Bedienstete, einen Koch, der gleichzeitig
als Butler fungierte sowie einen Hausmeister, der sich um all die anderen Belange von
Haus und Park kümmerte. Gäste empfing der Lord fast nie. So war es auch kaum
verwunderlich, dass die Begrüßung seines Neffen recht distanziert und kühl
verlief. Guten Tag, mein Junge. Für dich wurde ein Zimmer im Westturm hergerichtet.
Das Essen wird um 12 Uhr 30 in der großen Halle serviert. Sei bitte pünktlich.
Mit diesen Worten überließ der Hausherr seinen Verwandten der Obhut des
Butlers. Auf eine Geste des Mitleids, eine Umarmung oder wenigstens einen Händedruck
wartete der Neffe vergeblich. Es sollte beinahe ein Jahr vergehen, bevor der Lord begann,
sich seinem Gast gegenüber zu öffnen.
Nur widerstrebend löste sich der alte Mann vom Blick auf den winterlichen Park.
Auf dem Weg zum Bad verharrte er kurz neben der Kommode und ergriff mit fast zärtlicher
Anmut einen länglichen Gegenstand. Es handelte sich um eine schwarze Vogelfeder.
Als er an diesem Morgen erwacht war, hatte sie neben seinem Bett gelegen. Einfach so,
als sei sie durch eine Brise zu ihm hinein geweht worden. Doch er wusste es besser;
aufgrund der tiefen Temperaturen waren alle Fenster während der Nacht fest verschlossen
gewesen. Und doch hatte die Feder dort gelegen. Eine Träne rann langsam über
sein zerfurchtes Gesicht. So lange, flüsterte er leise. Zittrig strichen
seine Finger über die glänzende, spitz zulaufende Fahne, den Kiel und die
weichen Dunen am unteren Ende. So…schrecklich lange.
Nachdem er sich gewaschen und rasiert hatte, schlurfte er - noch immer in den Morgenmantel
gehüllt - die Wendeltreppe zum Erdgeschoss hinunter. Die schwarze Feder wippte
dabei wie..........
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